1.1 Bildungsgehalt des Faches Mathematik
Mathematik ist eine Wissenschaft, die auf abstrakter Ebene quantitative, räumliche und zeitliche Sachverhalte, Beziehungen und alltägliche Phänomene beschreibt und darstellt. Das Wissen und Umgehenkönnen mit diesem abstrakten, mathematischen Symbol- und Begriffssystem ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Grundlage für ein aktives, selbstständiges und gemeinschaftliches Handeln.
Eine wesentliche Aufgabe des Mathematikunterrichts über alle Schuljahre hinweg ist es, die Schülerinnen und Schüler für den mathematischen Gehalt bedeutsamer Alltagssituationen und -phänomene zu sensibilisieren und sie zum Problemlösen mit mathematischen Mitteln anzuregen.
Dieses Grundprinzip des Mathematisierens meint, dass im Fach Mathematik authentische, alltagsrelevante Situationen und Fragestellungen aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zum Ausgangspunkt für unterrichtliche Angebote werden. Indem die Schülerinnen und Schüler Fragestellungen mathematisch betrachten, strukturieren, interpretieren, darstellen, lösen und diese Lösungen zunehmend kritisch hinterfragen, erwerben sie sowohl inhalts- als auch prozessbezogene Kompetenzen mit dem Ziel der individuellen Kompetenzerweiterung.
Mathematisieren geht hierbei über rein arithmetische Fähigkeiten hinaus und wird zu einem Werkzeug, mit dessen Hilfe Alltag bewältigt werden kann. Die Fähigkeit des Mathematisierens leistet somit einen Beitrag zur individuellen Kompetenzerweiterung und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Grundlegend ist außerdem, dass die Schülerinnen und Schüler die erworbenen Kompetenzen mit der Zeit losgelöst von spezifischen Situationen nutzen und dass sie mit den gewonnenen Vorstellungen und Einsichten zunehmend gedanklich operieren und vom konkreten allmählich zum abstrakten Denken kommen (siehe 1.3). Dann können die Schülerinnen und Schüler die im Mathematikunterricht erlernten, mathematischen Grundvorstellungen, Denkweisen und Lösungswege zum Verständnis und zur Bewältigung von Aufgaben in den Bereichen des personalen, des sozialen und gesellschaftlichen, des selbstständigen Lebens und des Arbeitslebens übertragen und zur Alltagsbewältigung nutzen. Somit leistet das Fach Mathematik nicht nur in den anderen Fächern, sondern auch in den Lebensfeldern einen wesentlichen Beitrag zur individuellen Kompetenzerweiterung und zur Teilhabe am Leben.
Bezüge zwischen dem Fach Mathematik, anderen Fächern und den Lebensfeldern sind dabei immer in beide Richtungen herzustellen: Im Fach Mathematik erworbene Kompetenzen können ihre Wirksamkeit in allen anderen Fächern und Lebensfeldern entfalten. In umgekehrter Richtung lassen sich Themen aus anderen Fächern und den Lebensfeldern zum Unterrichtsgegenstand des Unterrichts im Fach Mathematik machen.
Abbildung 1: Verflechtung Lebensfelder – Fach Mathematik (© Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg)
1.2 Kompetenzen
Mathematische Kompetenzen lassen sich anhand der Kategorien inhalts- und prozessbezogene Kompetenzen näher charakterisieren.
1.2.1 Prozessbezogene Kompetenzen
Für den Mathematikunterricht sind die prozessbezogenen Kompetenzen Kommunizieren, Argumentieren, Problemlösen, Modellieren und Darstellen zentral.
Kommunizieren
Kommunizieren meint hierbei, dass die Schülerinnen und Schüler in kooperativen Phasen zunehmend sowohl ihre eigenen Gedanken mit mathematischen Fachbegriffen und Zeichen beschreiben als auch die Überlegungen anderer nachvollziehen können.
Argumentieren
Argumentieren beschreibt die Fähigkeit, mathematische Aussagen sprachlich zu formulieren, Vermutungen anzustellen, Lösungswege zu hinterfragen beziehungsweise zu überprüfen sowie verschiedene Sichtweisen einzubringen, zu begründen und zu diskutieren.
Problemlösen
Problemlösen heißt, dass die Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit entwickeln, mathematische Probleme zu erfassen, zu beschreiben und verschiedene, auch unbekannte Lösungswege zu beschreiten.
Modellieren
Die Modellierungskompetenz ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, durch Vernetzen, Strukturieren, Vereinfachen, Interpretieren und Validieren zwischen der Umwelt und der Mathematik zu übersetzen.
Darstellen
Darstellen zu können bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Lösungswege und Ergebnisse mithilfe von Fachbegriffen, mathematischen Zeichen, einfachen grafischen Darstellungen, Übersichten oder Zeichnungen dokumentieren und präsentieren können.
1.2.2 Inhaltsbezogene Kompetenzen der Grundstufe
Ergänzend zu diesen prozessbezogenen Kompetenzen werden im Mathematikunterricht der Grundstufe die inhaltsbezogenen Kompetenzen Zahlen und Operationen, Raum und Form, Größen und Messen sowie Daten, Häufigkeit, Wahrscheinlichkeit in den Blick genommen. Diese inhaltsbezogenen Kompetenzen werden jeweils in verschiedene Unterthemen aufgeteilt. Hierbei wird, wie die folgende Auflistung verdeutlicht, jedes Unterthema in einem eigenen Kompetenzfeld dargestellt und konkretisiert.
Zahlen und Operationen
- frühe mathematische Kompetenzen
- Mengen-/Zahlvorstellungen
- Operationen und Rechenstrategien
Raum und Form
- frühe mathematische Kompetenzen
- geometrische Grundvorstellungen zu Flächen und Körpern
- Orientierung im Raum
Größen und Messen
- frühe mathematische Kompetenzen
- Geld
- Längen
- Zeit
- Gewicht und Volumen
Daten, Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit
- frühe mathematische Kompetenzen
- Daten erkennen und darstellen
Diese Auflistung verdeutlicht, dass bei den inhaltsbezogenen Kompetenzen Zahlen und Operationen, Größen und Messen sowie Raum und Form jeweils ein Kompetenzfeld zu den frühen mathematischen Kompetenzen verortet wird. Der Begriff frühe mathematische Kompetenzen bezieht sich hierbei auf die Förderung grundlegender mathematischer Vorläuferfertigkeiten in dem jeweiligen inhaltlichen Bereich. Die Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Lernen bringen diese zentralen Vorläuferfertigkeiten aus unterschiedlichen Gründen häufig in einem nicht ausreichend gesicherten Maß mit und benötigen daher gezielte unterrichtliche Angebote in diesen Bereichen.
1.2.3 Inhaltsbezogene Kompetenzen der Hauptstufe
Aufbauend auf diesen Inhalten der Grundstufe werden in der Hauptstufe die inhaltsbezogenen Kompetenzen Leitidee Zahl – Variable – Operation, Leitidee Messen, Leitidee Raum und Form, Leitidee Funktionaler Zusammenhang sowie die Leitidee Daten und Zufall vertieft. Genau wie in der Grundstufe werden, wie die folgende Auflistung zeigt, auch diese inhaltsbezogenen Kompetenzen jeweils in verschiedene Teilthemen und Kompetenzfelder unterteilt.
Leitidee Zahl – Variable – Operation
- Mengen-/Zahlvorstellungen
- Operationen und Rechenstrategien
Leitidee Messen
- Geld
- Längen
- Zeit
- Gewicht
- Volumen
Leitidee Raum und Form
- Flächen
- Körper
Leitidee Funktionaler Zusammenhang
- Leitidee funktionaler Zusammenhang
Leitidee Daten und Zufall
- Leitidee Daten und Zufall
Diese inhaltsbezogenen Kompetenzen der Grund- und Hauptstufe werden auf den folgenden Seiten explizit vertieft und anhand von Denkanstößen, Kompetenzen und beispielhaften Inhalten illustriert.
Die prozessbezogenen Kompetenzen werden dabei nicht separat angebahnt und ausgebildet, sondern liegen jedem inhaltsbezogenen Bereich im Sinne einer Verflechtung zugrunde. Nur durch solch ein kontinuierliches Zusammenwirken inhalts- und prozessbezogener Kompetenzen können die Schülerinnen und Schüler tragfähige mathematische Kompetenzen erwerben, systematisch erweitern und schließlich für eine erfolgreiche Bewältigung lebensnaher Situationen anwenden. Die Lehrkräfte müssen daher in jeder Unterrichtsstunde die Wechselwirkung beziehungsweise den engen Zusammenhang zwischen inhaltlichen und prozessbezogenen Kompetenzen erkennen und durch individualisiert gestaltete Unterrichtsangebote provozieren.
Die Schülerinnen und Schüler erweitern und vertiefen mathematische Kompetenzen dann erfolgreich, wenn sie sich ihr mathematisches Wissen respektive ihre Fertigkeiten im Rahmen strukturierter und angeleiteter Unterrichtsphasen selbstständig und kooperativ erarbeiten sowie an ihr bisheriges Wissen anschließen. Durch diese Selbsttätigkeit auf Seiten der Schülerin / des Schülers wird Mathematik subjektiv bedeutsam. Um Unterricht somit möglichst individuell und kompetenzorientiert gestalten zu können, sind bestimmte didaktische Hinweise wichtig.
1.3 Didaktische Hinweise
Mit dem Ziel der individuellen Kompetenzerweiterung sollen Lernprozesse anknüpfend an das individuell vorhandene Vorwissen der Schülerinnen und Schüler kumulativ, handlungsorientiert und individuell gestaltet werden.
Gestaltung sinnstiftender, positiver Lernsituationen im Rahmen des Kreislaufs der individuellen Lern- und Entwicklungsbegleitung (ILEB)
Dabei werden vor allem auch die Schülerinnen und Schüler in den Blick genommen, die wenig Selbstvertrauen im Fach Mathematik haben, indem positive, sinnstiftende Erlebnisse und Begegnungen mit Mathematik geschaffen werden und ein positives Selbstkonzept gefördert wird.
Regelmäßige standardisierte und informelle diagnostische Prozesse im Rahmen von ILEB ermöglichen es, die verschiedenen Kompetenzen in einem Themenbereich festzustellen und nächste Lernziele zu vereinbaren.
Da vor allem die Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Lernen häufig basale Grundlagen zu den einzelnen Kompetenzen nur im Ansatz entwickelt haben, werden diese Grundlagen jeweils explizit überprüft und bei entsprechendem Bedarf im Unterricht gefördert.
Berücksichtigung unterschiedlicher Aneignungs- und Darstellungsebenen zur Differenzierung
Um in den jeweiligen inhaltsbezogenen Kompetenzen tragfähige Vorstellungsbilder entwickeln zu können, müssen zahlreiche enaktive Handlungsmöglichkeiten auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus geschaffen und der Wechsel zwischen diesen ermöglicht werden. Ikonische Darstellungen stellen dabei eine zentrale Verbindung zwischen der basal-perzeptiven beziehungsweise der konkret gegenständlichen und der symbolischen einschließlich der abstrakt (fach-)sprachlichen Repräsentationsebene dar. Dabei unterstützen individuell eingesetzte Darstellungsformen (Handlung, Sprache, Bild, Symbol) und Differenzierungsmaterial den Aufbau von Zahl-, Mengen-, Größen- und Operationsvorstellungen.
Schaffung eines sprachsensiblen Mathematikunterrichts
Ebenfalls bedeutsam ist eine Versprachlichung von Handlungen, Vorstellungen, Darstellungen, Strukturen und Operationen. Dabei werden Begriffe geklärt, Lernprozesse kooperativ gestaltet und die Schülerinnen und Schüler dazu angeregt, ihre Gedanken und Lösungswege zu verbalisieren. Somit werden die Schülerinnen und Schüler automatisch dazu ermutigt, verschiedene Sprachregister, wie beispielsweise Alltags- und Fach- oder Bildungssprache implizit und explizit miteinander zu verzahnen, um dadurch einen leichteren Zugang zu mathematischen Themen und Fragestellungen zu bekommen.
Fehler werden als notwendige, positive Zwischenschritte bei der Erweiterung individueller Kompetenzen gesehen, die durch einen kommunikativen Austausch geklärt werden. Beispielsweise Rechenkonferenzen, in denen die Schülerinnen und Schüler ihr Vorwissen sowie Vermutungen verbalisieren und mögliche Lösungswege darstellen und bewerten, bieten hierfür vielversprechende Anknüpfungspunkte.
Betonung von Strategien des Schätzens, Rundens und Überschlagens
In der heutigen, stark technologisch geprägten Welt, in der rein arithmetische Aufgaben häufig beispielsweise mit Handys, Taschenrechnern oder anderen digitalen Endgeräten gelöst werden, gewinnen Strategien des Schätzens, Rundens und Überschlagens zunehmend Bedeutung. Mathematikunterricht versucht daher, die Schülerinnen und Schüler so oft wie möglich zum kritischen Schätzen, Runden und Überschlagen von Aufgaben anzuregen. Ebenso ist der sinnvolle Einsatz des Taschenrechners oder anderer Medien zur Überprüfung der geschätzten, gerundeten und überschlagenen Ergebnisse dabei zentral.
Differenzierung durch den gezielten Einsatz des Taschenrechners oder anderer Medien
Der Taschenrechner oder andere digitale Medien wie zum Beispiel das Handy oder Tablets können darüber hinaus zur individuellen Differenzierung herangezogen werden. Diese mögliche Art der Differenzierung gestattet es den Schülerinnen und Schülern auch bei Themen mitarbeiten zu können, die sie selbst arithmetisch (noch) nicht lösen können.
Ein mithilfe dieser didaktischen Hinweise gestalteter Mathematikunterricht macht es möglich, dass Schülerinnen und Schüler mit heterogenen Voraussetzungen und Kompetenzen mit- und voneinander lernen und dabei Aufgaben in ihrem jeweils individuell verfügbaren Zahlenraum bearbeiten können.
Diese Überlegungen verdeutlichen, dass das Fach Mathematik einen wesentlichen Beitrag zu einer gelungenen Aktivität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben leistet, indem Mathematik zu einem Handwerkszeug wird, mit dessen Hilfe reale Situationen gelöst werden können.