1.1 Bildungsgehalt des Lebensfelds Soziales und gesellschaftliches Leben
Die Schülerinnen und Schüler wachsen in einer komplexen Gesellschaft auf. Sie ist gekennzeichnet durch Situationen, Entwicklungen und Herausforderungen, die zum einen neu und grundlegend sind (zum Beispiel die Digitalisierung). Zum anderen können sie nicht nachvollzogen werden ohne das entsprechende Wissen, beispielsweise zu Zusammenhängen der Globalisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche, welche zudem den Umgang mit natürlichen Ressourcen und Lebensgrundlagen betreffen. Pluralistische und divergierende Interessen können subjektive Eindrücke von Unübersichtlichkeit oder Unbeeinflussbarkeit hervorrufen. Informationen und Einsichten in diese Abhängigkeiten vieler alltäglicher Handlungen und Situationen von zahlreichen anderen Faktoren können helfen, dass sich die Schülerinnen und Schüler als selbstwirksam und mündig erleben. Das Handeln (zum Beispiel als Privatperson, als Staatsbürgerin und Staatsbürger oder als Konsumentin und Konsument) kann dadurch zu einem bewussten Handeln werden, das in einem individuell möglichen Maß auf gezielten Entscheidungen fußt.
Das Miteinander in einer pluralistischen Gesellschaft realisiert sich in unterschiedlicher Weise im privaten, beruflichen und staatsbürgerlichen Leben. In all diesen Kontexten geht es darum, Beziehungen zu gestalten, angemessen zu kommunizieren und im Sinn einer freiheitlich-demokratischen Ordnung der Gesellschaft zu handeln.
Medien jeglicher Art durchdringen jeden dieser Kontexte, verändern Gesellschaft und begleiten und gestalten auf unterschiedliche Weise den Alltag aller Menschen. Medien sind für viele Schülerinnen und Schüler in steigendem Maß Sozialisationsinstanz und Mittel, um sich selbst auszudrücken und zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten.
Die Vielfalt der Zusammenhänge und Verflechtungen des Lebens in unserer Gesellschaft sowie die Unterschiedlichkeit der Lebensentwürfe und Weltanschauungen stellen Herausforderungen und Chancen zugleich dar. Lebensverläufe sind vielfach nicht mehr vorgezeichnet. Dies ist Risiko und Handlungsspielraum zugleich und stellt die Einzelne und den Einzelnen in eine für das eigene Leben verantwortliche Position. Die Schule unterstützt die Schülerinnen und Schüler und ihre Familien dabei, Ressourcen, die für diese eigenverantwortliche Gestaltung des Lebensentwurfs erforderlich sind, zu nutzen und gegebenenfalls auszugleichen und Alternativen aufzuzeigen. Auf zurückhaltende, widerständige oder verweigernde Haltungen im Einzelnen oder Zweifel an der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Ordnung im Ganzen reagiert die Schule in angemessener Weise, um in einen konstruktiven Prozess mit den Schülerinnen und Schülern treten zu können.
Die Schule ermöglicht den Schülerinnen und Schülern durchgängig alters- und entwicklungsangemessene Zugänge zu den unterschiedlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens, um sie auf ein gemeinschaftliches Zusammenleben und den Umgang mit anderen Menschen vorzubereiten. Schulische Übungsfelder und Hilfestellungen erlauben es den Schülerinnen und Schülern, neue Erfahrungen zu machen und ihre Verhaltensmuster, Routinen, Kenntnisse und Fertigkeiten zu ergänzen und zu erweitern. Die Lehrkräfte und weitere schulische Partner begleiten und ermutigen die Schülerinnen und Schüler in ihren Fragen, ihrer Auseinandersetzung mit Grundhaltungen und Werten, Normen und Weltanschauungen und damit in ihrer Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft.
Ausgangspunkt ist dabei das Individuum, seine Beziehung zu sich selbst und zur Welt der Dinge und Phänomene. Abhängig von den Möglichkeiten und den Vorerfahrungen arbeiten die Lehrkräfte mit den Schülerinnen und Schülern an ihrer Bereitschaft, sich auf neue und zunächst fremde Eindrücke einzulassen, und an der Erschließung neuer Zugänge zur menschlichen und natürlichen Umwelt. Die Fähigkeit, in positive Beziehungen zu Mitmenschen zu treten, wird erweitert. Unterschiedliche Formen der Beziehungsgestaltung und der Kommunikation werden wahrgenommen, analysiert, reflektiert, sukzessive erweitert und modifiziert. Hierfür ist die Erfahrung des Angenommenseins, der Wertschätzung und der Verlässlichkeit, von Halt, Sicherheit und Orientierung entscheidend, die die Schülerinnen und Schüler in der Beziehung zu Lehrkräften und weiteren Erwachsenen machen. Auch hier sucht die Schule auf geeignete Weise die Zusammenarbeit mit den Eltern und weiteren an der Erziehung Beteiligten.
Die Schule versteht sich als Ort, an dem freiheitlich-demokratisches Leben, staatsbürgerliches und legitimiertes rechtsstaatliches Handeln im Kleinen sichtbar wird und erprobt werden kann. Die Lehrkräfte unterstützen alle Bestrebungen der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Familien, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Verantwortung zu übernehmen und ihre Interessen begründet und angemessen zu vertreten. Dabei werden unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen, die lebensweltlich und kulturell bedingt sein können, respektiert und ein Realitätsbezug hergestellt. Handlungsleitend ist für die Schule hierin der „Leitfaden Demokratiebildung“.
Auch hier, in diesem Lebensfeld, sind Aktivität und Teilhabe Ziel der pädagogischen Arbeit der Schule und all ihrer Partner. Die Ausgestaltung dieses Ziels, das Maß an Selbstbestimmung im Konkreten ist abhängig von der einzelnen Schülerin, dem einzelnen Schüler.
Beitrag des Lebensfelds zu den Fächern und den Leitperspektiven
Das Lebensfeld „Soziales und gesellschaftliches Leben“ muss vor diesem Hintergrund als Anspruch verstanden werden, die Bildungsangebote so auszurichten, dass die Schülerinnen und Schüler in ihren sozialen Kompetenzen und hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten gestärkt werden, Aktivität und Teilhabe in einer komplexen und pluralistischen Gesellschaft ausüben zu können. Fachbezogene Inhalte und Kompetenzen der Bildungsangebote können durch den Bezug auf die hier verzeichneten Kompetenzen in ihrer exemplarischen und zukünftigen Bedeutung verankert und kontextualisiert werden.
Das Lebensfeld „Soziales und gesellschaftliches Leben“ verdeutlicht damit unmittelbare und vielfach unbewusste Lebenszusammenhänge, in die einzelne Handlungen und soziale Kontexte eingebettet sind und über die im alltäglichen Leben und Lernen meist nicht reflektiert wird. Unmittelbar sind diese Zusammenhänge, weil beispielsweise der „subjektive Zugang zur Welt“, wie er als Kompetenzspektrum hier formuliert ist, direkt beeinflusst, wie sich Individuen mit emotionalen, sozialen und kognitiven Eindrücken, Situationen und Herausforderungen auseinandersetzen. Das mag an der Nutzung von Medien deutlich werden, betrifft darüber hinaus aber auch viele fachliche Inhalte: Wie zum Beispiel historische Vorgänge wahrgenommen, interpretiert und in Medien dargestellt werden, ist abhängig von vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Faktoren. In dieser Hinsicht tragen die in diesem Lebensfeld verzeichneten Kompetenzen zu einer Bewusstmachung von Verflochtenheit bei. Das individuelle Leben steht in all seinen Ausprägungen in vielfältigen und stark unterschiedlichen Beziehungen und auch Abhängigkeiten.
Abbildung 1: Verflechtung Lebensfeld Soziales und gesellschaftliches Leben – Fächer (© Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg)
Mehrfache Bezüge bestehen zu den Leitperspektiven sowie zu den weiteren Lebensfeldern. Die beispielhaften Inhalte im Lebensfeld „Soziales und gesellschaftliches Leben“ zeigen, dass die schulische unterrichtliche wie auch außerunterrichtliche Arbeit an den hier beschriebenen Kompetenzen nicht nur fachliche Inhalte erschließt, sondern auch die Orientierung an allen Leitperspektiven umsetzt.
„Selbstständiges Leben“ und „Arbeitsleben“ können ebenso als Lebensfelder aufgefasst werden, die im alles umfassenden Rahmen des „Sozialen und gesellschaftlichen Lebens“ gestaltet werden. Bildungsangebote in diesem Lebensfeld berühren daher immer auch alle anderen Lebensfelder und Unterrichtsfächer.
„Demokratie als Gesellschafts- und Herrschaftsform“ und „Demokratisches Leben“ beziehen sich ausdrücklich auf den „Leitfaden Demokratiebildung“. Die hier hinterlegten Kompetenzen konkretisieren die Hinweise des Leitfadens im Hinblick auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Lernen und können die Schulen bei der Umsetzung des „Leitfadens Demokratiebildung“ unterstützen.
Ergänzungen zum Beitrag des Lebensfelds zu den Fächern finden sich unter 1.3 Didaktische Hinweise.
1.2 Kompetenzen
Wie der nachfolgenden Übersicht zu entnehmen ist, ist das Lebensfeld „Soziales und gesellschaftliches Leben“ in fünf Bereiche untergliedert, die wiederum unterschiedliche Kompetenzfelder ausweisen, die die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Lernen konkretisieren.
Grundhaltungen und Werte
- Subjektiver Zugang zur Welt
- Individuum und Gemeinschaft
- Grundlagen des Zusammenlebens
Beziehungen gestalten und pflegen
- Beziehungen gestalten
- Umgang mit krisenhaften Situationen in Beziehungen
Kommunikation
- Kommunikation in Abhängigkeit vom Individuum
- Kommunikation in Abhängigkeit vom Gegenüber
- Kommunikation in Abhängigkeit vom Medium
Demokratie lernen und leben
- Demokratie als Gesellschafts- und Herrschaftsform
- Demokratisches Leben
Medienwissen und Medienhandeln
- Mediengesellschaft
- Information über Medien
- Nutzung von Medien
Diese Gliederung ist zu verstehen als eine Orientierung in einem vielfältigen Lebensfeld. Alle Kompetenzfelder und Kompetenzspektren stehen in enger Verbindung zueinander, wie teilweise in den Verweisen deutlich wird. Schulische Arbeit in diesem Lebensfeld berührt demzufolge meist mehrere Kompetenzfelder.
Die drei Kompetenzfelder des Bereichs „Kommunikation“ beschreiben eine Situation (zum Beispiel Gespräch, Diskussion, Chat, Telefonat), die immer von mehreren Aspekten gekennzeichnet ist: Gelingende Kommunikation findet immer in und mit einem bestimmten Medium situationsbezogen statt, hat Adressatinnen und Adressaten und ist durchweg abhängig von den kommunikativen Voraussetzungen und Kompetenzen der Beteiligten. Insofern beschreiben die drei Kompetenzspektren drei unterschiedliche, durch ihre Schwerpunktsetzungen einander ergänzende Zugänge zu kommunikativen Situationen und ihrer Erarbeitung im Unterricht. Bildungsangebote in diesem grundlegenden Bereich „Kommunikation“ berühren somit immer alle drei Kompetenzfelder.
In „Medienwissen und Medienhandeln“ wird aufgezeigt, wie die personalen Kompetenzen in einem sozialen Zusammenhang zur Anwendung gelangen. Es steht eng im Zusammenhang mit dem „Basiskurs Medienbildung“ und wirkt in alle gegenwärtigen und gesellschaftlichen Lebensbereiche hinein.
1.3 Didaktische Hinweise
Für den Lernerfolg ist häufig entscheidend, ob für die schulischen Inhalte die Alltagsrelevanz und ihre Verflechtung in Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens für die Schülerinnen und Schüler verdeutlicht werden können. Davon ausgehend sind Verbindungen dieses Lebensfelds aber nicht nur zu gesellschaftswissenschaftlichen Inhalten zu ziehen, sondern auch zu naturwissenschaftlichen Inhalten. So bleiben technologische Entwicklungen beispielsweise zumeist nicht auf den Bereich der Technik begrenzt, sondern finden in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang statt und bringen Fragestellungen mit sich, denen sich die Gesellschaft in Folge zu stellen hat.
In einem umgekehrten Sinne sind die hier verzeichneten Kompetenzen vielfach nicht zum eigentlichen Gegenstand des Bildungsangebots zu machen. Vielmehr vermitteln sich beispielsweise Kompetenzen aus „Demokratie lernen und leben“ über den unmittelbaren Nachvollzug demokratischer Prinzipien in alltäglich auftretenden Situationen in der Lerngemeinschaft (zum Beispiel dem Umgang mit unterschiedlichen Bedürfnissen, bei Entscheidungsfindungen und Konflikten), unabhängig vom Lebensalter der Schülerinnen und Schüler. Die Verfasstheit der Schule als eine immer soziale Situation bedingt, dass die hier verzeichneten Kompetenzen durchweg in allen Situationen, Fächern und Lebensfeldern bedeutsam sind und zum Gegenstand werden können. Die Schule schafft hierzu fest im Jahresprogramm verankerte und anlassbezogene Gelegenheiten. Beispiele hierzu sind Wahlmöglichkeiten (Arbeitsgemeinschaften, Projekte), Wahl von und Beteiligung in Gremien (Klassensprecherin/Klassensprecher, Schülermitverantwortung) sowie der Einbezug in Fragen der Schulgemeinschaft (zum Beispiel die Umgestaltung von Räumen und dem Schulhof, Schulfeste, Vertretung der Belange der Schule gegenüber Außenstehenden).
Komplexe Zusammenhänge des Lebens in Deutschland, Europa und der Welt werden exemplarisch und anlassbezogen erarbeitet und, wo notwendig, reduziert und pädagogisch gestaltet, um ein grundlegendes Verständnis zu ermöglichen. Unterschiede und Irritationen, die sich lebensweltlich und kulturell bedingt sowie im Spannungsfeld zwischen Vorstellung, Wunsch und Wirklichkeit ergeben können, werden produktiv aufgegriffen. Partizipation lässt sich in geeigneten Handlungsfeldern erfahren und ausgestalten. So können die Schülerinnen und Schüler begleitet werden bei der Vertretung eigener Belange gegenüber kommunalen Projekten im Sozialraum wie beispielsweise der Anlage und Gestaltung von Spiel- und Sportplätzen oder der Ausgestaltung des Angebots eines Jugendhauses. Die Schule pflegt hierzu ein umfassendes Netzwerk im Sozialraum, um geeignete Partner in die Schaffung von lebensweltlich bedeutsamen Lernsituationen einbeziehen und ein Probehandeln der Schülerinnen und Schüler ermöglichen zu können.
Den Lehrkräften kommt die Aufgabe zu, zum einen solche Lerngelegenheiten sich selbst bewusst zu machen und für die Schülerinnen und Schüler zu gestalten. Zum anderen sind die Lehrkräfte in den hier verzeichneten Kompetenzfeldern Vorbild in Handlung und Reflexion.
Sprachliche und begrifflich-abstrakte Formen der Aneignung sind für viele der in diesem Lebensfeld genannten Kompetenzen die zunächst offensichtlichen Möglichkeiten der Aufbereitung und der Arbeit an einem Inhalt. Die Herausforderung für die Lehrkräfte ist hier, alters- und entwicklungsangemessene Formen der Aufbereitung und Arbeitsweisen zu planen. Die hier dargestellten Kompetenzfelder versuchen mehrfach, Aneignungs- und Differenzierungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler unterschiedlichen Lebens- und Entwicklungsalters aufzuzeigen.