1.1 Bildungsgehalt des Faches Geschichte
Indem die Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht die historischen Wurzeln der Gegenwart aufspüren und dabei untersuchen, wie ihre Lebenswelt entstanden ist, lernen sie, sich in der Gegenwart zu orientieren und Wertmaßstäbe für ihr künftiges Handeln zu entwickeln.
Sie erleben im Geschichtsunterricht, der in der Hauptstufe auf die im Sachunterricht der Grundstufe erworbenen Kompetenzen aufbaut, anschaulich den Zusammenhang zwischen gestern, heute und morgen. Geschichte hilft ihnen auf diese Weise, die Welt der Gegenwart besser zu verstehen und Orientierung für die Gestaltung ihrer Zukunft zu gewinnen. Das Fach Geschichte soll in Kombination mit anderen Fächern, wie zum Beispiel Gemeinschaftskunde, Geographie, Bildende Kunst, die gesellschaftlichen Organisationsformen sowie deren historische Genese strukturieren und bietet den Schülerinnen und Schülern Orientierung und Vorbereitung auf ein Leben in der Gemeinschaft in einer globalisierten Welt.
Dabei lernen sie, sich in lebensnahen Lernsituationen räumlich und politisch zu orientieren, entwickeln nachhaltige Handlungsperspektiven und -alternativen, bilden persönliche Handlungsmöglichkeiten aus und gelangen so zu eigenen Werthaltungen. Dies gilt zum Beispiel für vertraute Gebäude oder Einrichtungen (Schulen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Firmen) im eigenen Wohnort ebenso wie für regionale Besonderheiten und überregionale Strukturen im weiteren nationalen und europäischen Umfeld, aber auch für globale Zusammenhänge und Konflikte, die bis in ihren Alltag hineinreichen. Die Schülerinnen und Schüler können so ihre nähere und fernere Umwelt mit zusehends geschärftem historischem Blick „lesen“ und erfahren damit gleichzeitig die Veränderlichkeit und Veränderbarkeit der Gegenwart. Damit wird auch der enge Zusammenhang zu den Fächern Geographie und Gemeinschaftskunde deutlich.
Der Unterricht nimmt daher individuelle lebensweltrelevante, existenzielle Fragen auch in Bezug auf die eigene Lebensgeschichte der einzelnen Schülerin / des einzelnen Schülers ernst.
Das zentrale Ziel des Geschichtsunterrichts ist der Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins. Es geht aus von der Erkenntnis, dass Geschichte sich zwar auf die Vergangenheit bezieht, aber keineswegs die Vergangenheit ist, denn sie gehört zur Gegenwart und diese geht aus ihr hervor. Die Schülerinnen und Schüler lernen deshalb schon am Anfang ihres Geschichtsunterrichts, dass Geschichte nicht gleichzusetzen ist mit den Geschehensabläufen in früheren Zeiten.
Dabei entwickeln sie die Bereitschaft, historische Einsichten für ihr eigenes Handeln zu nutzen. Sie erkennen die Notwendigkeit, sich auch in andere Perspektiven hineinzuversetzen, sich mit diesen kritisch auseinanderzusetzen und selbst Position zu beziehen.
Abbildung 1: Verflechtung Lebensfelder – Fach Geschichte (© Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg)
Im Geschichtsunterricht werden auch Bezüge zu den Leitperspektiven wie etwa zu Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV) sowie zu den Lebensfeldern hergestellt: Bei vielen geschichtlichen Themen erwerben die Schülerinnen und Schüler ein Verständnis für die wachsende Bedeutung des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung in ökonomischen, ökologischen und sozialen Fragen. Die Entwicklung von Kritik- und Empathiefähigkeit sowie die Bereitschaft zu multiperspektivischem Denken sind Voraussetzungen dafür, dass nachfolgende Generationen ihre Verantwortung für die Eine Welt übernehmen können.
Die Leitperspektive Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV) hat im Fach Geschichte einen zentralen Stellenwert, denn die Geschichte der Menschheit ist seit ihren Anfängen sowohl durch vielerlei wechselseitige Kultureinflüsse als auch durch Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen geprägt.
Die Schülerinnen und Schüler begegnen in der Geschichte unentwegt sowohl Beispielen für Intoleranz, aber auch für gegenseitigen Respekt und Akzeptanz von Vielfalt. Sie lernen den unterschiedlichen Umgang der Gesellschaft mit Minderheiten im Verlauf der Geschichte kennen und entwickeln dabei Werthaltungen, die sie zur Achtung und Wertschätzung von Verschiedenheit befähigen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit lässt Handlungsmuster sichtbar werden und schafft Einsichten, Perspektiven und Vorbilder für die Gegenwart und die Zukunft.
Beginnend mit der Erfindung der Schrift in den frühen Hochkulturen stoßen die Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder auf die ambivalente Rolle der Medien, des politischen Verständnisses und des Menschenbilds in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen. Sie erfahren, wie wichtig die kritische Auseinandersetzung mit diesen Aspekten für die Weiterentwicklung eines demokratischen Gemeinwesens ist.
1.2 Kompetenzen
Der Bildungsplan Geschichte geht von einem engen Zusammenhang zwischen Kompetenzorientierung und Problemorientierung aus. Diese Verbindung muss in der konkreten pädagogischen Arbeit beachtet werden. Bei der Formulierung der Kompetenzen ist berücksichtigt, dass Kenntnisse, Fähigkeiten, Einstellungen, Haltungen und Wertsetzungen sich im sozialwissenschaftlichen Bereich in einem lebenslangen Lernprozess entwickeln.
So vermittelt der Unterricht Handlungskompetenzen, welche die Schülerinnen und Schüler zu einer aktiveren Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben befähigen. Dazu gehören nicht nur Dialog- und Urteilsfähigkeit als Voraussetzungen zu demokratischen Auseinandersetzungen in einer Gemeinschaft. Die Schülerinnen und Schüler sollen auch lernen, leidenschaftlich für eigene Interessen und die Interessen anderer einzutreten, sich couragiert gegen Unrecht und Verletzung der Menschenwürde einzusetzen, solidarisch Schwächeren beizustehen und bereitwillig Verantwortung zu übernehmen.
Folgende Kompetenzen verfolgt der Geschichtsunterricht:
- Entwicklung von Interesse für historische, soziale, kulturelle und politische Fragen
- Orientierungsfindung durch Erfahrungen und Lebensweisen von Menschen in der eigenen Lebensumwelt und anderswo sowie in früheren Epochen und heute
- Erarbeitung eines geographischen, wirtschaftlichen, historischen und politischen Allgemeinwissens zur eigenen Orientierung und Teilhabe an der Gesellschaft
- Befähigung zur Achtung der Demokratie, der Umwelt und Wertschätzung der Menschenrechte
Im Bereich der in diesem Bildungsplan beschriebenen Kompetenzfelder sind prozessbezogene Kompetenzen miteinbezogen. Diese können – je nach örtlichen Begebenheiten, Bedarfen und Interessenslagen der Schülerinnen und Schüler – variieren und angepasst werden.
Abbildung 2: Der Kreislauf des historischen Denkens (aus: Bildungsplan 2016, Geschichte, Landesinstitut für Schulentwicklung)
Fragekompetenz
Die Schülerinnen und Schüler können historische Fragestellungen und Strategien zu ihrer Beantwortung entwickeln. Die Fragen können selbstreflexiv sein, auf die Ursprünge der eigenen Gesellschaft, der eigenen Geschichte abzielen. Sie können Antworten auf grundlegende Probleme anstreben oder beispielsweise auch einer Neugierde auf das Fremde oder das Vergangene entspringen. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, selbst Fragen an die Geschichte zu stellen und Wege zu ihrer Beantwortung finden.
Methodenkompetenz
Die Schülerinnen und Schüler können einfache Methoden anwenden, um historische Fragen beantworten zu können. Dazu muss man sich einfachen Quellen und Darstellungen zuwenden. Die Schülerinnen und Schüler lernen, verschiedene analoge und digitale Materialien fachgerecht und kritisch auszuwerten.
Reflexionskompetenz
Die Schülerinnen und Schüler können geschichtliche Sachverhalte und Deutungen analysieren, beurteilen und bewerten. Komplexe Wirkungszusammenhänge werden vereinfacht analysiert (Multikausalität) und die Zeit- und Standortgebundenheit des menschlichen Denkens (Multiperspektivität) erkannt und bedacht. Ein wichtiges Ziel ist die Stärkung der Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. Sie lernen, Urteile über Sachverhalte und Zusammenhänge (Sachurteile) sowie Wertungen (Werturteile) vorzunehmen und zu analysieren. Dabei sind insbesondere das Kontroversitätsgebot und das Überwältigungsverbot („Beutelsbacher Konsens“) in der historisch-politischen Bildung zu beachten.
Orientierungskompetenz
Die Schülerinnen und Schüler können Geschichte als Orientierung nutzen zum Verständnis von Gegenwart und Zukunft und zum Aufbau ihrer eigenen Identität. Geschichte ist stets verbunden mit dem „Jetzt“.
Sachkompetenz
Die Schülerinnen und Schüler können historische Sachverhalte strukturiert erschließen und wiedergeben.
1.3 Didaktische Hinweise
Folgende didaktische Aspekte sind im geschichtlichen Lernen im Förderschwerpunkt Lernen besonders bedeutsam:
Im Hinblick auf die inhaltsbezogenen Kompetenzen stehen die regionale, nationale und die europäische Ebene im Vordergrund des Geschichtsunterrichts. Allerdings werden die regionale, deutsche, europäische und globale Geschichte immer wieder durch die jeweils benachbarte regionale, nationale, kontinentale und globale Ebene konkretisiert, ergänzt und bisweilen relativiert.
Die Regionalgeschichte ermöglicht den Schülerinnen und Schülern einen anschaulichen, auf ihre Lebenswelt bezogenen Zugang zur Geschichte. Ihr didaktisches Potenzial liegt insbesondere im exemplarischen Prinzip. Historische Lernorte bieten in besonderem Maße Anregungen, den Prozess des historischen Denkens anzustoßen.
Die globalisierte Welt ist ein Kennzeichen des 21. Jahrhunderts. In den Klassenzimmern begegnen sich zunehmend Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichem Geschichtsverständnis. Deshalb soll auch aus der Perspektive der Globalisierung ein Blick auf die Vergangenheit geworfen werden.
Globalgeschichtliche Perspektivenwechsel bieten zudem in einer durch Migration geprägten Gesellschaft den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, im Unterricht ihre eigene Herkunftsgeschichte beziehungsweise die ihrer Familie kennenzulernen. Das können zum Beispiel Imperien (Ägypten oder Rom) oder Religionen (das Christentum oder der Islam) sein. Die wachsende globale Vernetzung wird in wichtigen Stationen verfolgt.
Ein weiteres didaktisches Potenzial liegt darin, aktuelle politische Ereignisse immer wieder auf ihre historischen Wurzeln hin zu betrachten. Dies bedeutet auch, im Unterricht die Chance und Verantwortung zu sehen, aus historischen Errungenschaften wie auch aus Fehlern zu lernen und für das heutige und zukünftige Leben positiv nutzbar zu machen. Exemplarisch seien hier medizinische und technische Erfindungen, politische Errungenschaften, aber auch Kriege, Machtstreben und Völkermord genannt, die bis heute wirken.