1.1 Bildungsgehalt des Lebensfelds Selbstständiges Leben
Schulische Bildung zielt auf die kompetente Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Situationen und Anforderungen in allen Lebensbereichen ab. Schülerinnen und Schüler werden befähigt, ein selbstständiges und selbstverantwortetes Leben in einer komplexen Gesellschaft zu führen. In individueller Ausprägung und in einem größtmöglichen Maß werden Aktivität und Teilhabe verwirklicht.
Schülerinnen und Schüler mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Förderschwerpunkt Lernen stehen vielfach in einem Spannungsverhältnis zwischen wahrgenommenen Möglichkeiten und einer Vielfalt an Optionen, ein selbstständiges Leben zu gestalten, daraus resultierenden Wünschen und Vorstellungen sowie den individuell zur Verfügung stehenden Spielräumen. Bildungsangebote, die auf ein selbstständiges Leben vorbereiten, nehmen diese Spannung behutsam in den Blick und versuchen sowohl die individuellen Möglichkeiten zu erweitern als auch den Umgang mit subjektiv wahrgenommenen Diskrepanzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu ermöglichen.
Im Lebensfeld „Selbstständiges Leben“ werden mit den unten genannten Kompetenzfeldern unterschiedliche Bereiche des personalen und sozialen Lebens in den Blick genommen, die als Kompetenzen für ein möglichst eigenständiges und eigenverantwortetes Leben relevant sind. Diese Bereiche stehen untereinander in Wechselwirkung. Freizeitliche Interessen beispielsweise wirken sich auf Motivation, formelles Lernen sowie Gesundheit und Wohlbefinden aus. Selbstwirksamkeit, weitgehende Unabhängigkeit, subjektiv sinnvolle, erfüllte und an Normen und Werten orientierte Ausgestaltung aller Lebensbereiche, verantwortungsvoller Umgang mit sich, mit anderen und mit natürlichen Ressourcen sind entscheidende Gegenstände und Zielperspektiven, die die Bildungsangebote hier im Blick haben. Damit werden zum einen Verbindungen zu den Lebensfeldern „Personales Leben“ und „Soziales und gesellschaftliches Leben“ deutlich und die hier genannten Kompetenzen sind in Bezügen zu diesen weiteren Lebensfeldern zu denken. Zum anderen zeigt dies, dass Bildungsangebote erfahrungs- und handlungsorientiert angelegt werden, dass die Lehrkräfte außerunterrichtliches und außerschulisches, formelles und informelles Lernen beachten, wenn schulische Bildungsangebote geplant und gestaltet werden, und schließlich, dass die Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben Aufgabe aller Klassenstufen ist und mit der Förderung basaler Fertigkeiten und Fähigkeiten beginnt.
Mit der Stärkung von Lernvoraussetzungen hilft die Schule, erfolgreiches formelles und informelles Lernen zu sichern. Wahrnehmung, Motorik, Symbolbildung, Ordnungs- und Kategorienbildung, Sprache, Verhalten und motivationale Kompetenzen sind Ausgangspunkt und Instrument des Lernens zugleich. Hier werden das Lernen selbst und methodische Kompetenzen in den Blick genommen. Fachliche Inhalte werden zugänglich und sind der Gegenstand, mit dem diese methodischen Kompetenzen erprobt werden.
Abbildung 1: Verflechtung Lebensfeld Selbstständiges Leben – Fächer (© Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg)
Das Lebensfeld „Selbstständiges Leben“ nimmt lebensweltbezogene Lernanlässe in den Blick und arbeitet mit ihnen konsequent zukunftsorientiert. Daraus resultiert zum einen die Aufgabe der Schule, die Kompetenzen, an denen gearbeitet wird, in ihrer zukünftigen Bedeutung sinnhaft in einem gegenwärtigen Bezug zu verankern. Zum anderen sind die Lehrkräfte und alle an Erziehung und Bildung Beteiligten aufgefordert, sich in der individuellen Lern- und Entwicklungsbegleitung den für die einzelne Schülerin oder den einzelnen Schüler zukünftig relevanten, Aktivität und Teilhabe sichernden Kompetenzen zu nähern. Dies geschieht in individueller Aushandlung, Gewichtung und wiederholter Überprüfung.
1.2 Kompetenzen
Die folgenden Bereiche mit den dazu gehörigen Kompetenzfeldern werden ausgewiesen:
Selbstorganisation / Anforderungen und Lernen
- Lernvoraussetzungen schaffen und stärken
- Handlungen planen und Lernen steuern
- Leistungen einschätzen und Lernen reflektieren
Selbstversorgung / Körper und Gesundheit
- Körperpflege und Hygiene
- Kleidung
- Einkauf, Verkauf, Geld
- Nutzung von und Umgang mit Geräten
- Gestaltung, Instandhaltung und Reparatur
- Informationen, Anträge und Termine
- Leben in der Familie – Erziehung und Pflege
Wohnen und Haushalt
- Grundlagen einer privaten Haushaltsführung
- Selbstständiges Wohnen – Gestaltung und Pflege
- Grundlagen der Nahrungszubereitung
- Konsumverhalten
Freizeit und Interessen
- Interessen entwickeln und Freizeit erleben und gestalten
Mobilität
- Mobilität
Grundlage für die Entwicklung und Stärkung der Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im Bereich des Lernens, der Leistungsorientierung und -fähigkeit ist die individuelle Entwicklungs- und Lernbiografie der einzelnen Schülerin und des einzelnen Schülers. Deswegen arbeitet die Schule im Bereich „Selbstorganisation / Anforderungen und Lernen“ eng mit den Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern und weiteren an deren Erziehung und Bildung Beteiligten zusammen. Vielfach ist diese Entwicklungs- und Lerngeschichte von Schwierigkeiten, Misserfolgen und Brüchen gekennzeichnet. Das Handeln der Lehrkräfte, eine stabile und verlässliche Beziehungsgestaltung, Strukturen der Schule sowie einzelne didaktische und methodische Maßnahmen haben zum Ziel, Schülerinnen und Schüler Vertrauen in ihr Können aufbauen zu lassen und die Familien zu entlasten. Die Schülerinnen und Schüler machen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, bekommen Lust auf das Erlernen neuer Inhalte und erzielen Erfolge in einem individuellen Maß. Faktoren, die das Lernen bedingen und bestimmen, werden als gestaltbar erlebt und gemeinsam nach Möglichkeit förderlich verändert. Fehler werden konsequent als diagnostisches Instrument verstanden und allen Beteiligten als Lernchance und Ausgangspunkt für weiteres Lernen kommuniziert. In diesem Zusammenhang stehen auch die Anbahnung und Stärkung reflexiver Kompetenzen, die zum Ziel haben, weitere Lernprozesse zu optimieren. Hierunter fällt eine realistische Attribuierung von Gelingen und Misslingen seitens der Schülerinnen und Schüler. Die Lehrkräfte nehmen sowohl deren Misserfolgsorientierung und eigene Schuldzuweisungen an sich selbst als auch Selbstüberschätzungen wahr, befragen diese nach ihrer individuellen Sinnhaftigkeit und suchen behutsam die Attribuierung zu verändern. Die Lehrkräfte begleiten verlässlich unter Umständen auch Rückschritte in der Performanz der Schülerinnen und Schüler und suchen gegebenenfalls nach Ursachen sowie nach Veränderungsmöglichkeiten.
Die Schülerinnen und Schüler erhalten im Bereich „Selbstversorgung / Körper und Gesundheit“ die in individueller Ausprägung notwendige Unterstützung bei der Ausbildung von Strukturen, Routinen und Fertigkeiten zur Bewältigung ihres Alltags. Physiologische und psychische Bedürfnisse werden auf der Grundlage und im Zusammenhang mit der individuellen Entwicklung der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers aufgegriffen und in geeigneter Weise thematisiert. Mit der Kompetenz, die eigenen Bedürfnisse im Alltag und in besonderen Situationen (zum Beispiel Krankheit) wahrzunehmen und adäquat zu erfüllen, entwickelt sich sukzessive die Fähigkeit, andere zu versorgen, seien es hilfebedürftige oder erkrankte Angehörige, Gäste oder auch eigene Kinder. Schule agiert hier kultur- und milieusensibel und findet in enger Zusammenarbeit und Aushandlung mit allen Beteiligten individuell geeignete Bildungsinhalte und Lerngelegenheiten.
Im Bereich „Wohnen und Haushalt“ kommt den Grundlagen der Nahrungszubereitung besondere Bedeutung zu. Gesundheit und Wohlbefinden sind gleichermaßen bestimmende Faktoren wie Auswirkungen des individuellen Ernährungsverhaltens. Das Zusammenleben mit anderen Menschen ist in allen Kulturen stark mit Tischkultur und gemeinsamen Mahlzeiten verbunden. Die Schülerinnen und Schüler erwerben hierin grundlegende Kompetenzen und entwickeln eigene Vorstellungen. Ziel ist es, sich selbst ausgewogen und im Rahmen der individuellen Möglichkeiten zu versorgen. Dabei greift die Schule die unterschiedlichen Herkunftskulturen der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern auf. Ebenso finden unterschiedliche Erfahrungen und Gewohnheiten der Schülerinnen und Schüler bezüglich gemeinsamer Mahlzeiten Berücksichtigung, die unter Umständen nicht bei allen selbstverständlich oder positiv besetzt sind. Weitere Kompetenzspektren beziehen sich auf das Konsumverhalten und das eigenständige Wohnen, auf das die Schule bereits vorbereitet. Die Schülerinnen und Schüler erweitern ihre Chancen auf Wohnen und Leben nach eigenen Vorstellungen, indem die Schule unterschiedliche Möglichkeiten, Gestaltungsformen und Wege der Unterstützung aufzeigt und abgleicht mit individuellen Spielräumen, nicht nur finanzieller Art. Im Sinne der Sicherung von Aktivität und Teilhabe verfolgt Schule hier eine stark nachschulische Orientierung, die ihre Absolventinnen und Absolventen in individuellem Maße unabhängig macht.
Die Schülerinnen und Schüler werden befähigt, individuell sinnhaft und subjektiv bedeutsam Freizeit und Interessen zu gestalten, um Ausgleich, Erweiterung der Interessen und Zugehörigkeitsgefühl zu erleben. Es ist Aufgabe der Schule, eine Vielfalt sowohl an Anbietern und Trägern von Freizeitangeboten als auch an Möglichkeiten der Freizeitgestaltung selbst in den Blick zu nehmen. Die Schule unterstützt die Schülerinnen und Schüler durch individuelle Maßnahmen bei der Auswahl von Tätigkeiten sowie Freizeitpartnerinnen und -partnern. Verlässlichkeit und Beständigkeit, bei einer Tätigkeit und einer Gruppe über gewisse Zeit zu bleiben, werden in den Blick genommen und sichern soziale Integration. Dabei setzt die Schule in intensiver Kooperation mit Eltern und weiteren Beteiligten an der Lebenswelt der einzelnen Schülerinnen und Schüler an. Die Schule nutzt Möglichkeiten zur Unterstützung oder Beratung der Personen aus dem sozialen Umfeld. Der Unterricht legt kontinuierlich Grundlagen für eine aktive Freizeitgestaltung wie Entscheidungen treffen, Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und angemessene Kommunikation in der Freizeit.
Alle genannten Möglichkeiten, Freizeit zu gestalten, sowie alle weiteren Kontexte werden als Bildungsräume und -anlässe verstanden. Die Schülerinnen und Schüler werden befähigt, die für sie entscheidenden und bedeutenden Lernorte zu erreichen. „Mobilität“ ist dabei in einem umfassenden Sinne zu verstehen und reicht von elementaren Bewegungsfertigkeiten bis zum selbstständigen Nutzen öffentlicher und individueller Verkehrsmittel. Die Schülerinnen und Schüler erweitern ihren Aktionsradius sukzessive, sowohl in räumlicher Hinsicht als auch im Sinne von Selbstständigkeit, Aktivität und Teilhabe an gesellschaftlichem Leben.
1.3 Didaktische Hinweise
Zur Feststellung von Lernleistungen
In diesem Lebensfeld werden unter anderem Kompetenzen in den Blick genommen, die sich mit dem Lernen von Schülerinnen und Schülern und ihren Leistungen befassen. Die Schule, die Lehrkräfte und weitere an Bildung und Erziehung Beteiligte befinden sich in kontinuierlichem Austausch darüber, welches Verständnis von schulischem und außerschulischem Lernen sie anlegen und was Leistung für sie bedeutet, worin sie sichtbar werden kann und wie sie zu messen ist. Auf dieser Grundlage wird die Bedeutung von Lernen und Leistung für Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Lernen eingeschätzt.
Die Schule stellt sicher, dass die Kriterien und Methoden, die zur Leistungsfeststellung genutzt werden, sowie die Instrumente zur Leistungsbewertung und ihrer Rückmeldung in Einklang stehen mit übergeordneten Zielen des Schulkonzepts und des Leitbildes der Schule. Alle am Schulleben Beteiligten haben Einblick in diese Vereinbarungen und sind nach Möglichkeit in die Erstellung und Findung einbezogen.
Die Spannung zwischen unterschiedlichen Bezugsnormen der Leistungsbewertung (siehe Teil A dieses Bildungsplans) wird in angemessener Form reflektiert und mit allen Beteiligten kommuniziert. Für Schülerinnen und Schüler steht vorrangig der Vergleich mit der eigenen Lernentwicklung im Vordergrund. Weitere Bezugsnormen finden situativ bedingt Anwendung und stehen in engem Zusammenhang mit möglichen Übergängen, Anschlüssen und Abschlüssen.
Schule als Lebensraum – Schule als Lernraum – Lebenslanges Lernen
Viele Kompetenzen dieses Lebensfeldes sind stark einer Vorbereitung auf das Leben als Erwachsene oder Erwachsener in einer komplexer werdenden Gesellschaft zuzuordnen. Damit stehen Bildungsangebote in diesem Lebensfeld auch in Zusammenhang mit der Befähigung zum lebenslangen Lernen. Hieraus folgt, dass Lehrkräfte in engem Austausch mit Eltern und weiteren an Bildung und Erziehung Beteiligten Bedürfnisse und Bedarfe der Schülerinnen und Schüler kennen und erarbeiten, um entsprechende Bildungsangebote bereitzuhalten. In dieser Auseinandersetzung reflektieren Lehrkräfte kultur- und milieusensibel, nehmen unterschiedliche Entwicklungs-, Lern- und Lebensverläufe ihrer Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Absolventinnen und Absolventen in den Blick und gehen mit Spannungen aus unterschiedlichen Ansichten und Lebensentwürfen konstruktiv um.
In der Erarbeitung curricularer Angebote legt dieses Lebensfeld ein umfassendes Verständnis von Bildung nahe. Ausdrücklich wird außerunterrichtliches, außerschulisches, informelles Lernen in den Blick genommen und in eine individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung (ILEB) aufgenommen, die alle Aspekte der Persönlichkeit berücksichtigt.
Schule als Kompensation
Entwicklungs- und Lernbiografien von Schülerinnen und Schülern zeigen vielfach an, Bedürfnisse oder Erfahrungen auszugleichen oder nachgehend zu ermöglichen. Die Lehrkräfte und weitere am Schulleben Beteiligte diskutieren kritisch die Möglichkeiten der Schule und beteiligter Institutionen, in welcher Form dies strukturell und individuell gelingen kann. Sie reflektieren sensibel, in welchen Bereichen unter Umständen ein Ausgleich möglich ist, wo bisherige Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler behutsam erweitert werden können, aber auch, wo der Schule und ihren Partnern Grenzen gesetzt sind. Insbesondere nehmen die Lehrkräfte Konflikte zwischen unterschiedlichen Normen und Werten wahr, die beispielsweise in unterschiedlichen Lebensentwürfen begründet liegen, und gehen konstruktiv und dialogorientiert damit um.
Grundlage der Planung und Gestaltung der Bildungsangebote ist eine stärkenorientierte Perspektive, die förderliche und stützende Faktoren der Entwicklung und damit die Salutogenese betont.
Lernen in sinnhaften Bezügen – Lernen in Bewährungssituationen
Subjektiv bedeutsame Bildung entsteht nicht nur, aber vor allem dann, wenn die Anwendbarkeit des Inhalts und der Aspekt der Kompetenzerweiterung bewusst wahrgenommen werden können. Bildungsangebote sind in diesem Sinne als Situationen zu gestalten, in denen zum einen handlungs- und erfahrungsorientiert Tätigkeiten selbst direkt erprobt werden können und in denen zum anderen die lebensweltliche, außer- und nachschulische Bedeutsamkeit (zum Beispiel durch den Einbezug von Partnerinnen und Partnern sowie von Expertinnen und Experten) deutlich wird.
Situationen mit Ernsthaftigkeitscharakter (zum Beispiel Dienstleistungen der Schülerfirma) ermöglichen, neben dem Kompetenzerwerb in Situationen direkter Anwendung und damit der Erfahrung der Selbstwirksamkeit, vielfach eine höhere Motivation und Beteiligung der Schülerinnen und Schüler.
Ziel dieser Bildungsangebote ist es, die Lernbereitschaft, die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu stärken und eine an Neuem interessierte und auf Lernzuwachs ausgerichtete Haltung zu fördern, die Aktivität in und Teilhabe an unterschiedlichen Lebenszusammenhängen ermöglicht.