1.1 Bildungsgehalt des Faches Kunst/Werken
Die künstlerische Bildung und das künstlerische Denken finden im Fach Kunst/Werken ihren Entfaltungsraum. Der Begriff „Künstlerische Bildung“ lässt sich aus dem erweiterten Kunstbegriff entwickeln, wie ihn Beuys geprägt hat. Er nannte seinen erweiterten Kunstbegriff auch einen anthropologischen Kunstbegriff. Mit ihm knüpft er an die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen an, Dinge und vor allem sich selbst zu gestalten. Allgemein bezeichnet man dies als Kreativität. Hierbei wird vom Schöpferischen als einer basalen Fähigkeit des Menschen ausgegangen, unabhängig von deren Ausprägungsgrad und ihrer vielfältigen Einschränkungen. Die künstlerische Bildung orientiert sich mit ihren Inhalten, Zielen und Methoden an der Kunst.
Im Fach Kunst/Werken wird der künstlerischen Bildung Raum gegeben. Sie zeichnet sich besonders durch die Subjektorientierung aus. Diese äußert sich, indem durch das eigene künstlerische Tun und Handeln und durch das Interesse an Vertrautem wie Neuem das Selbst gebildet wird. Künstlerische Bildung meint demnach künstlerisches Denken und Bildung des Subjekts in der Gegenwart durch Kunst. Diese Selbstbildung entsteht durch eine intensive künstlerische Auseinandersetzung, welche das Fach Kunst/Werken wie folgt leisten kann: Im Fokus der künstlerischen Bildung stehen die Schülerin und der Schüler als kunstschaffende Individuen. Durch Wahrnehmen, Erforschen, Entdecken, Spielen, Verwerfen, Explorieren, Imaginieren und Reflektieren im gegenseitigen Austausch haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, sich je nach eigener Fähigkeit und individuellem Entwicklungsstand Themen, Gegenstände und damit einen Teil der Welt aktiv anzueignen.
Diese Zentrierung auf das kunstschaffende Subjekt kommt den Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung entgegen. Denn für sie ist es aufgrund ihrer extrem unterschiedlichen Lernfähigkeit und einer erschwerten Selbst-Lernfähigkeit von besonderer Bedeutung, individuell angesprochen zu werden. Gerade diese Schüler-Subjekt-Zentrierung stellt eine Schnittmenge zwischen der künstlerischen Bildung und den didaktischen Prinzipien der Individualisierung und Subjektorientierung sowie der Identitätsentwicklung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Lerneinschränkungen her. Die künstlerische Bildung, das künstlerische Projekt haben durch Mittel und Inhalte der Kunst die Chance einer Fruchtbarmachung dieser Schnittmenge.
Ein weiterer Fokus liegt auf der Prozessorientierung. Künstlerisches Denken wird durch ein künstlerisches Projekt als prozess- und werkorientierte Rezeption, Produktion und Reflexion verstanden. Dies bedeutet, dass nicht nur das künstlerische Werk als Endprodukt im Zentrum steht, sondern ebenso der durchlaufene Prozess mit seinen Phasen „Sammeln", „Recherchieren", „Präsentieren" und „Positionieren".
Im Sinn eines erweiterten Leistungsverständnisses werden hierbei nicht nur neugewonnene Sachkenntnisse, sondern auch personale Kompetenzen wie Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Positionierungsfähigkeit dokumentiert. Dabei werden zwei verschiedene Ausdrucksformen von erworbener Kreativität angesprochen: Die eine verwandelt den Gegenstand in ein inhaltlich ausdifferenziertes Werk, in das vorausgegangene Erkenntnisse und Aktivitäten eingeflossen sind; die andere bringt die Veränderung des Werkschaffenden selbst während des künstlerischen Tuns zum Ausdruck.
1.2 Kompetenzen
Abbildung 1: Verflechtung Lebensfelder – Fach Kunst/Werken (© Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg)
Wahrnehmen, Beobachten, Erfahren, Erforschen, Erleben
Die Schülerinnen und Schüler lassen sich an schulischen und außerschulischen Lernorten auf Darstellungen, Ereignisse, Situationen und Phänomene mit verschiedenen Sinnen ein. Sie nehmen sich und die Welt mit zunehmenden Erfahrungen differenziert wahr. Sie entwickeln Sensibilität, Offenheit, Interesse, aktives Beobachten und Neugier gegenüber der Welt. Aus dieser Grundhaltung heraus verfeinern sie ihre Wahrnehmung und Beobachtungsgabe und sammeln ästhetische Erfahrungen.
Die Schülerinnen und Schüler können unterschiedliche Erscheinungsformen von Natur und Kultur erleben, erkennen, erforschen, beschreiben, vergleichen und für künstlerische Prozesse nutzen. Sie finden zu einer ergebnisoffenen Grundhaltung, die Explorieren und Experimentieren in den Mittelpunkt stellt. Sie eignen sich Methoden, Welterkundung und Erkenntnisgewinnung an. Sie probieren, kombinieren und gestalten sowohl intuitiv als auch planvoll. Sie analysieren, deuten und erklären. Hierzu nutzen sie in vielfältiger Weise unterschiedliche künstlerische Ausdrucksformen, Medien, Materialien und Werkzeuge.
Bearbeiten, Manipulieren, Neu-Gestalten
Die Schülerinnen und Schüler agieren mit unterschiedlichen Materialien und Gegenständen aus ihrem unmittelbaren Umfeld. Sie gestalten und arrangieren sie neu, deuten sie um und treten im Spiel in Aktion mit ihnen. Auf diese Art und Weise schulen sie Wahrnehmung und Fantasie, teilen Alltagserfahrungen und Gefühle mit, verarbeiten diese und erleben Selbstwirksamkeit. Durch das (Neu-)Gestalten unterschiedlichster Räume erhalten die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, ihr räumliches Umfeld mit vielen Sinnen zu entdecken, wobei die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler in besonderem Maß berücksichtigt werden können. Im Hantieren und Experimentieren mit verschiedenen bildnerischen Materialien, Techniken und Werkzeugen erleben die Schülerinnen und Schüler Freude beim selbsttätigen Gestalten, sie bauen ihre handwerklichen Fertigkeiten aus und können ihre gestalterischen Ausdrucksmöglichkeiten verfeinern.
Dokumentieren, Präsentieren, Reflektieren von künstlerischen Prozessen und Werkergebnissen
Die Schülerinnen und Schüler dokumentieren ihren künstlerischen Prozess (zum Beispiel in Form eines Projekt-, Skizzen-, Werk-, Foto-, Digital-Buches oder eines Portfolios). Der künstlerische Prozess in seiner materiellen und inhaltlichen Auseinandersetzung mündet, als künstlerischer Ausdruck, in das Werk. Die Präsentation des künstlerischen Prozesses sowie das künstlerische Werk an sich werden in vielfachen Darstellungsformen geplant, vorbereitet und erlebt. Angefangen bei der Präsentation im Klassenverband, der Schulgemeinschaft oder als schulinterne Ausstellung für die Eltern. Ebenso wird der öffentliche Raum mit Partnerinnen und Partnern aus Kunst, Kultur und Gemeinde genutzt, um künstlerische Werke zu präsentieren.
Die Schülerinnen und Schüler planen und führen Gestaltungsvorhaben durch, reflektieren Entstehungsprozesse und Ergebnisse und entwickeln Handlungsalternativen. Sie können aus den gewonnenen Erkenntnissen Konsequenzen für weitere künstlerische Prozesse sowie für das Alltagshandeln ableiten.
Die Schülerinnen und Schüler reflektieren und positionieren sich, indem sie eigene Arbeitsprozesse und Ergebnisse darstellen, die andere überprüfen, akzeptieren sowie sachbezogen und differenziert bewerten. Dabei wenden sie erworbene Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten in Diskussions- und Reflexionsphasen an.
Sie verfügen über die Fähigkeit, zu einem künstlerischen Prozess und Werk eine eigene Position zu beziehen, zu begründen und zu vertreten sowie respektvoll mit anderen Positionen umzugehen.
1.3 Didaktische Hinweise
Im Mittelpunkt der künstlerischen Bildung steht das Subjekt mit seiner Eigenart und Selbstkonstruktionsfähigkeit. Diese Zentrierung auf das „kunstschaffende Subjekt“ kommt den Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung entgegen. Denn für sie ist es aufgrund ihrer unterschiedlichen Lernvoraussetzungen von besonderer Bedeutung, individuell angesprochen zu werden. Didaktisch findet dies im Individualisierungsprinzip seinen Ausdruck. Im Fokus des künstlerischen Prozesses steht die Schülerin oder der Schüler als kunstschaffendes Individuum.
Die Prozessorientierung aus kunstpädagogischer Sicht im Sinn der künstlerischen Bildung sieht eindeutig vor, dass die Schülerinnen und Schüler künstlerische Prozesse (Projekte) entwickeln, was bedeutet, den gesamten Bildungs- und Selbstbildungsprozess von der Gestaltungsarbeit ausgehend zu denken. Ebenso versteht sich der integrative didaktische Ansatz des „gemeinsamen Gegenstands“ als das Elementare und Fundamentale in der prozessorientierten Bildungsaneignung. Je nach derzeitiger Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungskompetenz können alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Möglichkeiten in künstlerischen Prozessen ganz Unterschiedliches am „gemeinsamen Gegenstand“ lernen.
Die Individualisierung und das didaktische Prinzip der Prozessorientierung sind voneinander unabhängige Größen. Da sie gleichzeitig Basisfaktoren darstellen, ist es geradezu unvermeidlich, sie miteinander zu verbinden. Die künstlerische Bildung bietet den Schülerinnen und Schülern die Chance für deren didaktische Umsetzung.
Folgende didaktische Prinzipien aus „Gestalten und Lernen“ unterstützen den künstlerischen Bildungsprozess:
Betont wird das hohe Maß an „Offenheit“ in der Auswahl der Themen, in der Materialwahl und in der Arbeitsweise. Dies soll den Schülerinnen und Schülern das selbstständige Finden von individuellen Lösungen, aber auch von authentischen Arbeitsergebnissen ermöglichen.
„Nichtnormierung“ in allen Bereichen des Schaffens: Dies hilft den Schülerinnen und Schülern, eigene ästhetische Vorstellungen auf dem Schaffensniveau zu entwickeln, welches ihnen entspricht. Auf dieser Basis ist die Arbeit in heterogenen Schülergruppen mit unterschiedlichen Bildungsgängen möglich.
„Kommunikation“ über die gefundenen Lösungen oder über die Präsentation meint nicht nur das Reflektieren, Austauschen oder konstruktive Kritisieren, sondern auch das Anerkennen und Würdigen des Geleisteten.
Damit Lernen durch Gestalten stattfinden kann, ist der „Prozess“ eines Vorhabens von entscheidender Bedeutung. Am Anfang steht die „Themenfindung“, die sich an den Wünschen, Interessen und künstlerisch-ästhetischen Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler orientiert. Diese muss möglicherweise über einen längeren Zeitraum vorbereitet und klar strukturiert werden. Das Ziel des künstlerischen Forschungs- und Gestaltungsprozesses ist meist ergebnisoffen, da das selbstständige Finden von individuellen Lösungen nur bedingt vorhersehbar ist.
Danach folgt eine schöpferische, kreative Arbeitsphase, die mit den Begriffen „Chaos“ und „Schöpfung“ treffend beschrieben wird. Damit sind alle eigenständigen oder gestützten kreativen Konzeptbildungen gemeint, die die Gruppe oder das Individuum dem Ziel näherbringen und die oft mit dem Ringen um Lösungen verbunden sind. Ist die Struktur, die Form, das Bild gefunden, folgt häufig eine Phase des anstrengenden „Sicherns und Übens“, um in der letzten Konsequenz die Ergebnisse auch „präsentieren“ zu können.
Partizipation und Inklusion durch künstlerische Bildung
Partizipation geht über die Teilnahme, im Sinn von Beitragen, Anerkennen, Vielfalt und Zugehörigkeit, hinaus. Dies kann durch künstlerische Bildung gewährleistet, gefördert und somit Inklusion ermöglicht werden. Partizipation ist gegeben, indem die Schülerinnen und Schüler Entscheidungen selbst treffen, eigenständig und individuell arbeiten, mitbestimmen und Verantwortung selbst tragen. Zudem schaffen sie ein eigenes Werk. Bezogen auf die Schülerinnen und Schüler mit Behinderung wird keine explizite Vordifferenzierung oder Vereinfachung vorgenommen. Vielmehr wird der Gegenstand allen Schülerinnen und Schülern in seiner ganzen Komplexität eröffnet, wodurch ein Absprechen von Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigung und damit ein allgemeines „downsizen“ verhindert wird. Mit dieser Grundeinstellung geht eine zutrauende Haltung vonseiten der Lehrkraft einher, welche es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, die Herausforderungen zu meistern.
Die Subjektorientierung führt darüber hinaus dazu, dass der gemeinsame Gegenstand individuell und nach eigenen Interessen und Bedürfnissen erarbeitet wird und somit eine Differenzierung vonseiten der Schülerinnen und Schüler stattfindet. Künstlerische Bildung und künstlerische Prozesse besitzen demnach eine natürliche Differenzierung, da durch die Prozessorientierung, Individualität, Subjektorientierung und innewohnende Vielfalt die optimalen Bedingungen für eine individuelle Weltaneignung und Bildung geschaffen sind. Hierbei ergänzen sich Individualisierung, Kooperation und Gemeinsamkeit und führen zu einem gleichberechtigten Miteinander. Künstlerische Bildung zeichnet dabei besonders aus, dass die natürliche Differenzierung nicht die Hauptintention ist, sondern dadurch, dass die Bildung durch und mit Kunst im Vordergrund steht und mit Inklusion und Partizipation einhergehen.