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1. Leitgedanken zum Kompetenzerwerb

1.1 Bildungswert des Faches Jüdische Religionslehre

Einst trat ein Nichtjude vor Hillel und sprach zu ihm: „Ich will Jude werden unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuße stehe.“ Hillel sprach zu ihm: „Was dir zuwider ist, das tu auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur die Erläuterung, geh und lerne sie!“
(Talmud Schabbat 31a)

Die Jüdische Religionslehre fördert religiöse Bildung und leistet im Rahmen des Erziehungs- und Bildungsauftrags der Schule einen eigenständigen und vielseitigen Beitrag. Kennzeichnend ist ein bekenntnisorientierter Unterricht, der die Frage nach Werten thematisiert und zum ganzheitlichen Denken und Handeln anregt. Die Jüdische Religionslehre ermöglicht Zugänge zu den Glaubensgrundlagen, Normen und ethisch-praktischen Vorschriften des Judentums und stellt diese in Bezug zu den Lebensbedingungen der Kinder in unserer pluralistischen Gesellschaft. Sie thematisiert aus diesem Grund elementare Aspekte der Religion, die das alltägliche Leben und dessen Gestaltung betreffen und so ein respektvolles, achtsames, tolerantes und gleichberechtigtes Miteinander fördern.

Die Taten der Menschen sind nicht beliebig und durch ihr Handeln stehen sie als soziale Wesen in Wechselwirkung mit anderen. Da jeder Einzelne durch eigene Entscheidungen das Geschehen in der Welt beeinflussen kann, lernen die Kinder sich als Teil der Gesellschaft zu begreifen und ihr Handeln in diesem Sinne auszurichten. Im Blickpunkt der Jüdischen Religionslehre stehen daher nicht nur existenzielle Fragen des Einzelnen, sondern auch soziale Fragen des Miteinanders. Den Kindern werden Möglichkeiten aufgezeigt, über die jüdische Religion eine Hilfe zur Deutung und Gestaltung des eigenen Lebens zu finden. Der Unterricht nimmt Fragen und Antworten der kindlichen Lebenswelt auf und bietet Impulse für ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes religiöses Leben auf der Grundlage des Judentums. Die jüdischen Schülerinnen und Schüler erreichen im Alter von 12 beziehungsweise 13 Jahren ihre Bar- und Bat-Mizwa. Ab diesem Zeitpunkt müssen sie ihr Verhalten vor Gott selbst verantworten.

Der Religionsunterricht fördert die Entwicklung der jüdischen Identität der Schülerinnen und Schüler. Sie erfahren Orientierungen und Hilfestellungen bei der Reflexion der eigenen Lebensausrichtung. Das Fach Jüdische Religionslehre trägt dazu bei, die Glaubensinhalte und die Tradition des Judentums für das eigene selbstverantwortete Leben und das Zusammenleben mit anderen Menschen zu nutzen und befähigt die Schülerinnen und Schüler dazu, zur eigenen religiösen Identität zu stehen, Minderheitenperspektiven einzunehmen und diese gegenüber anderen vertreten zu können. Damit einhergehend werden die Entwicklung von Selbstbewusstsein, Selbstachtung, Eigeninitiative, Verantwortungsbewusstsein, Kreativität, Phantasie und Solidarität angestrebt. In diesem Zusammenhang unterstützt die Jüdische Religionslehre die Schülerinnen und Schüler zu einem eigenverantwortlich und reflektierten Denken und Handeln.

Rechtliche Grundlage

Am 1. August 2005 wurde auf Antrag der Israelitischen Religionsgemeinschaften in Baden und in Württemberg ab dem Schuljahr 2005/2006 das Fach Jüdische Religionslehre in Baden-Württemberg aus der Versuchsform in ein ordentliches Unterrichtsfach im Sinne von Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 18 der Landesverfassung und den §§ 96 bis 100 des Schulgesetzes überführt. Im Vertrag des Landes Baden-Württemberg mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden und der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg vom 18. Januar 2010 wird im Artikel 4 zum Religionsunterricht unter (1) festgelegt: „Der jüdische Religionsunterricht ist an den öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach. Er wird unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der IRG Baden und der IRG Württemberg von deren Bevollmächtigten erteilt und beaufsichtigt.“

Beitrag des Faches zu den Leitperspektiven

In welcher Weise das Fach Jüdische Religionslehre einen Beitrag zu den Leitperspektiven leistet, wird im Folgenden dargestellt:

  • Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)
    Der Jüdische Religionsunterricht leistet seinen Beitrag für nachhaltige Entwicklung, indem er wichtige Fragen des globalen Zusammenlebens anspricht. Die Schülerinnen und Schüler reflektieren über die jüdische Verpflichtung zur Wohltätigkeit und Güte (Zedaka und Chessed) und die Verpflichtung des Menschen gegenüber der Schöpfung, der Natur und der Umwelt.
  • Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV)
    Der Jüdische Religionsunterricht lehrt den unantastbaren Wert des menschlichen Lebens und eröffnet Perspektiven für ein friedliches Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft, verbunden mit der Verpflichtung, bei dem Leid der Anderen nicht „still zu stehen“.
  • Prävention und Gesundheitsförderung (PG)
    Eines der Ziele des Jüdischen Religionsunterrichts ist es, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Persönlichkeit sowie in ihrer seelischen und körperlichen Gesundheit zu stärken. Wertschätzendes Kommunizieren und reflektiertes Handeln sind hierbei von zentraler Bedeutung.
  • Berufliche Orientierung (BO)
    Der Jüdische Religionsunterricht fördert die Kinder in ihrer Individualität. Er greift deren Potenzial und Interessen auf und unterstützt sie darin, kritisch zu urteilen und mitzubestimmen. Er ermutigt sie dazu, den Horizont für die Gestaltung des eigenen Lebensweges zu erweitern.
  • Medienbildung (MB)
    Den Umgang mit Medien üben die Schülerinnen und Schüler durch deren angemessenen Einsatz ein. Diese finden ihre Anwendung sowohl bei der Beschaffung von Informationen als auch als Hilfsmittel bei Problemlösungen. Bei der Präsentation von Lernprozessen und Ergebnissen steigern die Schülerinnen und Schüler ihre Kompetenz im Bereich der Medienbildung, lernen die Vorzüge des Umgangs mit Medien kennen und erkennen deren Grenzen und Gefahren.
  • Verbraucherbildung (VB)
    Der Jüdische Religionsunterricht vermittelt, basierend auf der jüdischen Ethik, einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen. Die Schülerinnen und Schüler lernen, welche persönlichen und globalen Konsequenzen ihr Konsumverhalten hat und werden zu einem verantwortungsbewussten Lebensstil angeregt.

1.2 Kompetenzen

Der Jüdische Religionsunterricht fördert den Erwerb und die Vertiefung religiöser Bildung. Die Jüdische Religionslehre vermittelt den Schülerinnen und Schülern im Unterricht elementare Kompetenzen, die ihnen den Zugang zu ihrer Sprach‑, Erinnerungs‑, Glaubens, Lern‑, Werte- und Schicksalsgemeinschaft eröffnen.

Die Kompetenzen religiöser Bildung beinhalten die Fähigkeit, die Vielgestaltigkeit von Wirklichkeit wahrzunehmen und zu reflektieren, jüdische Deutungen mit anderen zu vergleichen, die Wahrheitsfrage zu stellen und eine eigene Position zu vertreten sowie sich in Freiheit auf religiöse Ausdrucks- und Sprachformen (zum Beispiel Symbole und Rituale) einzulassen. Im Sinne der Lebensbegleitung und Identitätsentwicklung sind auch personale und soziale Kompetenzen in den Blick zu nehmen.

Der Bildungsplan unterscheidet prozessbezogene Kompetenzen und Standards für inhaltsbezogene Kompetenzen, die in vielfältiger Weise aufeinander bezogen sind. Sie sind stets zusammen zu denken. In ihrer Zusammenführung werden sie zu einem tragfähigen Gewebe, das – bezogen auf die Situation vor Ort und auf die Bedürfnisse der Kinder – individuell verfeinert und weiter gewoben wird.

Prozess- und inhaltsbezogene Kompetenzen sind eng miteinander verwoben. (© Landesinstitut für Schulentwicklung)
Prozess- und inhaltsbezogene Kompetenzen sind eng miteinander verwoben. (Bild: Kommissionen)

Prozessbezogene Kompetenzen

Die prozessbezogenen Kompetenzen sind in fünf Bereiche aufgelistet:

  • Wahrnehmen, Fragen und Darstellen
    Die Schülerinnen und Schüler nehmen ihre familiäre, gemeindliche und schulische Umwelt wahr, können diese „Welten“ beschreiben und in religiösen Fragestellungen reflektieren.
  • Deuten
    Die Schülerinnen und Schüler können religiöse Sachverhalte erschließen, zuordnen und wiedergeben und religiöses Lernen als ununterbrochenen Erkenntnis- und Lebenserfahrungsprozess verstehen.
  • Urteilen
    Die Schülerinnen und Schüler können religiöse und ethische Fragen erkennen, unterschiedliche Positionen vergleichen und bewerten sowie eine eigene Position einnehmen.
  • Kommunizieren und Dialogfähig-Sein
    Die Schülerinnen und Schüler können sich in die Gedanken, Gefühle und in die Sicht- beziehungsweise Verhaltensweise anderer hineindenken, sich damit auseinandersetzen und sich darüber austauschen. Sie gehen respektvoll mit den Meinungen anderer um, akzeptieren diese und zeigen sich gesprächsbereit.
  • Gestalten und Handeln
    Die Schülerinnen und Schüler können sich mit der Frage der Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung aus jüdischer Sicht auseinandersetzen und gemäß religiöser und moralischer Einsicht handeln.

Inhaltsbezogene Kompetenzen

Anhand der inhaltsbezogenen Kompetenzen werden die verbindlichen Inhalte des Jüdischen Religionsunterrichts der ersten vier Schuljahre aufgezeigt. Die inhaltsbezogenen Kompetenzen sind in fünf Bereiche gegliedert, welche wiederum in verschiedene Teilkompetenzen aufgeteilt sind:

  • HASCHEM (Gott)
  • TORA (Die schriftliche und mündliche Lehre/Jüdische Weisung)
  • LUACH (Jüdischer Kalender)
  • HAADAM (Mensch)
  • HAOLAM (Welt)

1.3 Didaktische Hinweise

Die Jüdische Religionslehre versucht, Antworten auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu geben und vermittelt die Bedeutung von Demokratie, Freiheit, Toleranz, Gleichberechtigung und Akzeptanz von Vielfalt. Sie trägt dazu bei, Grundkompetenzen für ein friedliches Zusammenleben zu erwerben. Die Schülerinnen und Schüler werden im jüdischen Religionsunterricht über die prozessbezogenen und inhaltsbezogenen Kompetenzen zu selbstverantwortlichem und selbstbestimmtem Handeln geführt.

Die geringe Schülerzahl und die schwierigen Voraussetzungen zur Stundenplanfindung machen es erforderlich, dass in der Regel klassen- und schulartübergreifend unterrichtet wird. Um den Unterrichtsrealitäten gerecht zu werden, unterscheidet der Bildungsplan für Jüdische Religionslehre in der Grundschule nicht zwischen verschiedenen Klassen. So liegt es im Ermessen der Lehrkraft, den geeigneten Zeitpunkt für den Erwerb der Lesefähigkeit in Hebräisch festzulegen. Bei optimalen Voraussetzungen ist es möglich und empfehlenswert, die Lesekompetenz (Hebräisch) bis zum Ende der Klasse 2 zu erwerben.

Die Schülerinnen und Schüler des Faches Jüdische Religionslehre stammen überwiegend aus traditionsfernen Haushalten. Religion und jüdische Tradition gehören oft nicht zu ihrer Lebenswelt. Ihre Umwelt ist christlich geprägt; so kennen sie aus dem Kindergarten oder der Schule Weihnachtslieder, lernen dort auch Bräuche wie Ostereiersuchen und Laternenumzüge kennen. In den Geschäften und Schaufenstern sehen sie Faschingsdekorationen und Halloweenverkleidungen. Jüdischen Symbolen und Traditionen begegnen sie dort nicht. Die ersten vier Lernjahre im jüdischen Religionsunterricht sind daher geprägt von einem ersten Heranführen an die jüdische Religion, Tradition und Kultur. Das Synagogenjahr mit seinen Feiertagen bestimmt maßgeblich die Unterrichtseinheiten der jüdischen Grundschülerinnen und Grundschüler. Eine vertrauensvolle Atmosphäre ist Voraussetzung für ein offenes Begegnen der existenziellen Fragen des Religionsunterrichts. Jüdische Werte und Ethik reflektieren Handlungsmaxime, dementsprechend versteht sich der Jüdische Religionsunterricht handlungsorientiert.


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