Anlage 1 PflAPrV
Die in dieser curricularen Einheit im Mittelpunkt stehenden Kompetenzen werden in Vorbereitung auf den im dritten Ausbildungsdrittel stattfindenden Pflichteinsatz in der psychiatrischen Versorgung aufgebaut bzw. sind auf das vertiefte Verstehen der gewonnenen Erfahrungen ausgerichtet. Menschen mit Problemen und Risiken im Bereich der psychischen und kognitiven Gesundheit sind in allen pflegerischen Settings anzutreffen, sodass die in dieser curricularen Einheit und in dem damit korrespondierenden Pflichteinsatz erworbenen Kompetenzen in den ersten zwei Ausbildungsdritteln aufgebaut werden müssen.
1./2. Ausbildungsdrittel
- Zu den am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen gehören Angststörungen, affektive Störungen (z. B. Depressionen) sowie Störungen durch Alkohol und Medikamentenkonsum.
- Vor allem alte Menschen sind in einem hohen Ausmaß von kognitiven Beeinträchtigungen betroffen, insbesondere von Demenz. Aus gesellschaftskritischer Perspektive spiegeln sich in psychiatrischen Diagnosen implizite und explizite gesellschaftliche Werthaltungen und damit verbundene Selektions- und Ausgrenzungsmechanismen sowie Stigmatisierung und Diskriminierung wider.
- Reflektierte Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit psychischen Problemlagen unter Berücksichtigung des Lebensweltbezugs und der Personenzentrierung spielen eine grundlegende Rolle.
- Für Auszubildende liegt die besondere Herausforderung darin, Beziehungen zu Menschen zu gestalten, deren Wahrnehmung und Erleben nicht immer dem gewohnten Verständnis von Realität entsprechen. Eigene Abwehrprozesse und ggf. Projektionen können den Beziehungsaufbau zusätzlich erschweren.
1./2. Ausbildungsdrittel
- Die Auszubildenden reflektieren das eigene innere Erleben in der Interaktion mit Menschen mit psychischen Erkrankungen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen einschließlich widerstreitender Gefühle, sie werden ihrer Ängste und möglicher Abwehrmechanismen gewahr.
- Des Weiteren reflektieren sie den Widerspruch zwischen zu pflegenden Menschen sowie professionell Pflegenden als Träger von Rollen auf der einen und als ganze „Personen“, die sich nicht auf Rollen reduzieren lassen, auf der anderen Seite. Sie erkennen, dass klinische Diagnosen das Ergebnis von sozialen Konstruktionsprozessen sind.
Grundlegend für das 1./2. Ausbildungsdrittel
- die Pflege von Menschen aller Altersstufen verantwortlich planen, organisieren, gestalten, durchführen, steuern und evaluieren (I.1 a-h)
Die Auszubildenden
- erheben pflegebezogene Daten von Menschen aller Altersstufen mit gesundheitlichen Problemlagen sowie zugehörige Ressourcen und Widerstandsfaktoren (I.2.a).
- interpretieren und erklären die vorliegenden Daten bei Menschen mit überschaubaren Pflegebedarfen und gesundheitsbedingten Einschränkungen anhand von grundlegenden pflege- und bezugswissenschaftlichen Erkenntnissen (I.2.b).
- nehmen Hinweiszeichen auf mögliche Gewaltausübung wahr und geben entsprechende Beobachtungen weiter (I.2.e).
- verfügen über ein grundlegendes Verständnis zu physischen, psychischen und psychosomatischen Zusammenhängen, die pflegerisches Handeln begründen (I.2.f).
- pflegen, begleiten und unterstützen Menschen aller Altersstufen in Phasen fortschreitender Demenz oder schwerer chronischer Krankheitsverläufe (I.3.a).
- verfügen über grundlegendes Wissen zu Bewältigungsformen und Unterstützungsangeboten für Familien in entwicklungs- oder gesundheitsbedingten Lebenskrisen (I.3.b).
- wahren das Selbstbestimmungsrecht des zu pflegenden Menschen, insbesondere, wenn dieser in seiner Selbstbestimmungsfähigkeit eingeschränkt ist (I.6.a).
- erkennen eigene Emotionen sowie Deutungs- und Handlungsmuster in der Interaktion (II.1.a).
- bauen kurz- und langfristige Beziehungen mit Menschen unterschiedlicher Altersphasen und ihren Bezugspersonen auf und beachten dabei die Grundprinzipien von Empathie, Wertschätzung, Achtsamkeit und Kongruenz (II.1.b).
- nutzen in ihrer Kommunikation neben verbalen auch nonverbale, paralinguistische und leibliche Interaktionsformen und berücksichtigen die Relation von Nähe und Distanz in ihrer Beziehungsgestaltung (II.1.c).
- wenden Grundsätze der verständigungs- und beteiligungsorientierten Gesprächsführung an (II.1.d).
- erkennen grundlegende, insbesondere gesundheits-, alters- oder kulturbedingte, Kommunikationsbarrieren und setzen unterstützende Maßnahmen ein, um diese zu überbrücken (II.1.e).
- erkennen sich abzeichnende oder bestehende Konflikte mit zu pflegenden Menschen, wenden grundlegende Prinzipien der Konfliktlösung an und nutzen kollegiale Beratung (II.1.f).
- erkennen Asymmetrie und institutionelle Einschränkungen in der pflegerischen Kommunikation (II.1.g).
- informieren Menschen aller Altersstufen zu gesundheits- und pflegebezogenen Fragestellungen und leiten bei der Selbstpflege und insbesondere Bezugspersonen und freiwillig Engagierte bei der Fremdpflege an (II.2.a).
- beobachten und interpretieren die mit einem medizinischen Eingriff verbundenen Pflegephänomene und Komplikationen in stabilen Situationen (III.2.c).
- wirken entsprechend ihrem Kenntnisstand an der Unterstützung und Begleitung von Maßnahmen der Diagnostik und Therapie mit und übernehmen die Durchführung in stabilen Situationen (III.2.d).
- nehmen interprofessionelle Konflikte und Gewaltphänomene in der Pflegeeinrichtung wahr und verfügen über grundlegendes Wissen zu Ursachen, Deutungen und Handhabung (III.3.c).
- verfügen über grundlegendes Wissen zur Gesetzgebung im Gesundheits- und Sozialbereich (IV.2.c).
- nehmen drohende Über- und Unterforderungen frühzeitig wahr, erkennen die notwendigen Veränderungen am Arbeitsplatz und/oder des eigenen Kompetenzprofils und leiten daraus entsprechende Handlungsinitiativen ab (V.2.b).
- gehen selbstfürsorglich mit sich um und tragen zur eigenen Gesunderhaltung bei, nehmen Unterstützungsangebote wahr oder fordern diese am jeweiligen Lernort ein (V.2.c).
Handlungsanlässe
1./2. Ausbildungsdrittel
Verschiedene exemplarisch ausgewählte, bei Menschen in psychischen Problemlagen und mit kognitiven Beeinträchtigungen häufig vorkommende Pflegediagnosen, u. a.
- situationsbedingtes/chronisch geringes Selbstwertgefühl
- beeinträchtigte soziale Interaktion
- Machtlosigkeit
- beeinträchtigte Denkprozesse – mit Einschränkungen, u. a. des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, der Handlungsplanung, der Urteilsfähigkeit
- akute und chronische Verwirrtheit
- Angst, Furcht
- tiefe Niedergeschlagenheit
- Antriebsschwäche
- unwirksames oder defensives Coping
- gestörte persönliche Identität
- Wahrnehmungsstörung
- psychosomatische Beschwerden
- unwirksames Rollenverhalten
- beeinträchtigte Familienprozesse
- soziale Isolation
- Selbstversorgungsdefizit
- Schlafstörung, nächtliche Unruhe
- gefahrengeneigtes Gesundheitsverhalten
- Stressüberlastung
Ausgewählte medizinische Diagnosen, u. a.
- Demenz
- Depression
- Angststörungen
- RL/REK: religiöse Deutungen psychischer Erkrankungen; besondere Herausforderungen in der existenziell-seelsorglichen Begleitung
Kontextbedingungen
1./2. Ausbildungsdrittel
Makroebene
- Geschichte der psychiatrischen Pflege, u. a. Wärter, Pflege im Nationalsozialismus, Psychiatrie-Enquete
- spezifische gesetzliche Rahmenbedingungen, u. a. pflegerelevante Aspekte PsychKHG, Betreuungsrecht, BTHG
- spezifische ökonomische Rahmenbedingungen, z. B. kurzer Überblick Finanzierung der Versorgungsbereiche für Menschen mit psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen (z. B. SGB V, IX, XI, XII)
- Inklusion und Stigmatisierung/Diskriminierung psychisch kranker und kognitiv beeinträchtigter Menschen
- Verständnis von psychischer und kognitiver Gesundheit und Krankheit vor dem Hintergrund anthropologischer Erkenntnisse und sozial konstruierter Normabweichung
Mesoebene
- Institutionen der (geronto-)psychiatrischen und geriatrischen sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung
- pflegerisches Selbstverständnis in der psychiatrischen Pflege
- Arbeitsablaufstrukturen/Pflegesystem: Bezugspflege/Primary Nursing
Ausgewählte Akteure
1./2. Ausbildungsdrittel
- Menschen aller Altersstufen mit kognitiven Beeinträchtigungen
- Menschen aller Altersstufen mit psychischen Gesundheitsproblemen
- Mitpatientinnen und Mitpatienten als Akteure
- Selbsthilfegruppen
- intra- und interprofessionelles Team, z. B. Psychiaterinnen und Psychiater, psycholog. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, (psychiatrisch) Pflegende mit unterschiedlichen Qualifikationen, Angehörige der Therapieberufe, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Genesungsbegleiterinnen und Genesungsbegleiter/Peers, Betreuerinnen und Betreuer, Richterinnen und Richter, Polizistinnen und Polizisten
Erleben/Deuten/Verarbeiten
Auszubildende
- Angst als lebenswichtiges Gefühl von Menschen
- eigene Ängste
- Abwehrprozesse und Vorurteile
- Perspektivenübernahme und Zuschreibung (Projektion)
- eigene Verhaltensnormen/Wertmaßstäbe und „befremdende“ Verhaltensformen
- eigene Überforderung, z. B. Sekundärtraumatisierung von Pflegenden
Zu pflegende Menschen
- Erleben und Leid der zu pflegenden Menschen mit psychischen Erkrankungen und kognitiven Beeinträchtigungen und ihrer Bezugspersonen, z. B. sich selbst nicht wiedererkennen, soziale Isolation, Angst, Unsicherheit, Panikgefühle
- biographische Sinndimension, Auswirkungen psychischer Erkrankungen und der mit kognitiven Beeinträchtigungen verbundenen Phänomene
Handlungsmuster
1./2. Ausbildungsdrittel
- Pflegebedarf feststellen und Pflegeprozesse zur personenzentrierten Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen dialogisch planen, steuern, durchführen und evaluieren, dabei Orientierung an spezifischen Pflegemodellen und -theorien, u. a. Interaktionstheorien, z. B. Peplau, Kitwood
- Kommunikation unter Berücksichtigung psychischer und kognitiver Einschränkungen [D]
- Beziehungsaufbau und -gestaltung unter Berücksichtigung anderer Formen der Realitätswahrnehmung und ggf. eigener Projektionen sowie einer personenzentrierten Haltung und Aspekten der Lebensweltorientierung, z. B. Validation
- Informationsweitergabe von biopsychosozialer Beobachtung, Beschreibung und Interpretation (z. B. im Hinblick auf die Pharmakotherapie, bei Übergaben, Fallbesprechungen)
- Ermittlung der die jeweilige Pflegediagnose ursächlichen bzw. begünstigenden Faktoren und die Einschätzung von Risikofaktoren sowie des Ausmaßes der Beeinträchtigung
- Milieugestaltung
- Unterstützung im Umgang mit der gegenwärtigen Situation
- Förderung der Hinwendung zu positiven Veränderungen
- Förderung des Wohlbefindens
- kollegiale Beratung, Supervision kennenlernen [D]
- soziologische und sozialwissenschaftliche Grundlagen der Demenz und psychischer Erkrankungen, z. B. Vulnerabilitäts-Stress-Modell
- Persönlichkeitstheorien/-modelle, z. B. Riemann, Big Five, DISG
- unterschiedliche Klassifikationssysteme in der psychiatrischen Pflege (z. B. NANDA, ICD, NOC, ICF)
- medizinisch- naturwissenschaftliche und psychologische Grundlagen ausgewählter psychischer Störungen
- Überblick über medizinisch-, naturwissenschaftliche Grundlagen der Demenz und deren Differentialdiagnosen
- Übersicht Anatomie/Physiologie/Pathologie des Gehirns
- Überblick über Therapieansätze
- Überblick über die psychiatrische Pharmakologie, einschl. Über- und Fehlversorgung
Zum Beispiel:
- Gesprächs- und Beratungssituationen mit zu pflegenden Menschen und ggf. ihren Bezugspersonen in der psychiatrischen Pflege üben
Zum Beispiel:
1./2. Ausbildungsdrittel (bezogen auf zu pflegende Menschen mit psychischen Erkrankungen oder kognitiven Beeinträchtigungen in allen pflegerischen Versorgungsbereichen)
- Biografie eines zu pflegenden Menschen mit psychischer Erkrankung oder kognitiver Beeinträchtigung erheben und daraus Schlussfolgerungen für die Versorgung ableiten
- Aufbau und Gestaltung einer tragfähigen und belastbaren Arbeitsbeziehung zu zu pflegenden Menschen mit psychischer Erkrankung bzw. kognitiver Beeinträchtigung beispielhaft anhand von Kriterien beschreiben
- biopsychosoziale Beobachtung und Interpretation der Beobachtungen vor dem Hintergrund verschiedener (sozialwissenschaftlicher/psychologischer/medizinischer) Theorien
Aufbau von Kompetenzen anhand von situationsbasierten Unterrichtseinheiten, in denen die aufgeführten situationsgebundenen Inhalte sinnvoll kombiniert werden, z. B. im 1./2. Ausbildungsdrittel
- Lernsituation eines alten Menschen mit beeinträchtigten Denkprozessen (mit der medizinischen Diagnose einer beginnenden Demenz)
- Lernsituation einer/eines Jugendlichen mit einer Angststörung
- Lernsituation eines Menschen mittleren Alters, der sich chronisch überlastet fühlt und unter dem Gefühl der Machtlosigkeit leidet (mit der medizinischen Diagnose einer Depression) unter Variation des sozialen und kulturellen Umfelds sowie des Alters der zu pflegenden Menschen und nach Möglichkeit des Versorgungsbereichs